IV. Beispieltext

In diesem Kapitel wollen wir als Beispieltext einige fergiartische Sprüche aufführen. Diese Sprüche sind in einzelne, inhaltlich mehr oder minder eng zusammenhängende Abschnitte unterteilt. Innerhalb der Abschnitte werden wir zunächst jeweils einen Spruch zitieren, der dann von der jeweiligen Übersetzung gefolgt wird. Grammatische Besonderheiten werden dann gegebenenfalls nach der Übersetzung aufgeführt.

I.

Geni gîra voit, koi in' ammûda kên tôva pruvayètu; ini dâtiva mûday hve una gome giassa geni voni mengnèt.

Ein wahrer Freund ist, wer sich (auch) im Unglück als solcher erweist; in Zeiten des Glücks kann auch ein schlechter Mensch ein Freund sein.
pruvayètu (Präs. Aor. des medialen Verbs pruvajanu)

Etîsa susentra voit, gîyan ingàni kên eyan inharvemeni; ad' antarbûsa nôstrun sardun hve gîya abrud dallemeni ingêt.

Es ist wesentlich leichter eine Freundschaft zu beginnen, als sie zu erhalten; bei der Unbeständigkeit unserer Herzen beginnt selbst die Freundschaft rasch zu schwanken.
ingàni (Inf. Aor. ingêni, eingehen, beginnen); inharvemeni (Inf. Aor. inhviarnenni, bewahren, erhalten); dallemeni (Inf. Aor. diollenni, schwanken)

Apa geye anundlan yîlan heve giknîta, atte anundlan eye ingiknît! Hant gêse kên kiardra, kai gîyan antikisèt.

Von einem Freund borge man sich kein Geld und man leihe ihm keines! Diese beiden (Sachen) sind wie eine Schere, welche die Freundschaft zerschneidet.

Koi uno loiva voit, loiva menît uno ambilan addasònt; ki hehinèt egnin inkanemeni, h'eye menîsan ini demallo èhvale?

Wer einem lieb ist, bleibt lieb, auch wenn er einem unangenehmes tut; wer hört auf das Feuer zu achten, (selbst) wenn es das beste im Haus verbrennt?
addasònt (Part. Präs. addûsenni, antun, bewirken); èhvale (im Ferg. m. 3. Pers. Perf. zu hveleni, verbrennen)

Una geni, voyet farna on gatta, luya on gensha, son on arvu diyatze, hemper menîsan siarman voit.

Ein Freund, sei er reich oder arm, traurig oder fröhlich, mit oder ohne Fehler, bleibt immer die beste Stütze.

II.

Byadîta gome voinna pru genêbya atte rimêma, ka kotra atter andûra hant atte pôlna gêsay du kôke, kon hem adèfayant! Amprettitter eyan innivan in hoitran sênnan son heve plîsant.

Der kluge Mensch nehme sich in Acht vor Frauen und Flüssen, die beide gleichermaßen unergründlich sind und voller Sehnen nach allem, was sie einmal erblickt haben! Unerbittlich ziehen sie ihn mit sich hinab in ihre Tiefe.
adèfayant (6. Pers. Aor. affèyenni, erblicken); plîsant (6. Pers. Präs. !, plîsenni, reißen)

Koi mînnin gebbèt, perhvalèt hevan dâtin ini sambêma sanze son mattatte atte gitze; balene perkadònt hevan gitan son hashêbya, hvenno atte disprîya.

Wer Geist besitzt, verbringt seine Zeit in kurzweiliger Beschäftigung mit Dichtung und Wissenschaft; Dummköpfe verschwenden ihr Leben mit Begierden, Schlaf und Streit.

Gardît îyenin ne prûn eya tetaymèna, mî nubyan esha yovikat ìnkinkase, mî agran apa bello opigègevuse atte mî grênan imbevermèno.

Man lobe nicht die Speise, bevor sie verdaut, nicht die Gattin, bevor ihre Jugend vergangen, nicht den Held, bevor er aus der Schlacht zurückgekehrt und nicht das Getreide, bevor es eingebracht ist.
Partizipialkonstruktion mit. Dativus Absolutus: tetaymèna (Dat. Sg. f. Part. Perf. Pass. tâyenni, verdauen); ìnkinkuse (Dat. Sg. f. Part. Perf. Akt. ìnkenni, vergehen); opigègevuse (Dat. Sg. m. Part. Perf. Akt. opigaiyenni, zurückkehren); imbevermèno (Dat. Sg. m. Part. Perf. Pass. imbèrenni, einbringen)

Alikô, koi ovi ballata in' ammûda gegaye, voyet teve loiva on mî, edammud gârgan hekont ess iolye assàne! Hise eyan opi esha menîsan mîs tognan munè.

Jedem, der aus Dummheit in Unglück geraten ist, sei er dir lieb oder nicht, dem helfe nach Kräften aus der Not! Dann schimpfe ihn zu seinem besten tüchtig aus.
gârgan hekont (Redewendung: nach Kräften)

III.

Rês gunnay, kên neru duttu trêgent, kai eya ap' anundlo tarto atte anundlo goilyo rirmmèna mengnèt atte adi litemeni anundla vîrni voit.

Der Schatz des Wissens, den gebildete Menschen mit sich führen, kann einem von keinem Dieb und keinem Herrscher gestohlen werden und ist beim Reisen keine Last.

Unan nera dutta settevan tegrèyantin nerasha duttasha giye. Gena ambiarni nîke môran dânan adi gnemeni giye.

Nur der gelehrte Mann kennt die ermüdende Arbeit des gelehrten Mannes. Eine unfruchtbare Frau kennt auch nicht die gewaltigen Schmerzen beim Gebären.
adi gnemeni (beim Gebären m.Dat. Inf.)

Danga kai anundlan konan vête giye, anundlan danga voit, hved siartlan gladasha kod ovi binasha in' ûyan lêd sidrît.

Eine Zunge, die keinen schönen Spruch kennt, ist keine Zunge, sondern ein Stück Fleisch, welches sich aus Furcht im Mund versteckt (hält).

IV.

Yovikat kên anni bartu stravèt atte nopigâs. Itake laisha navît. Mîs, gêla opi laishan yèyanant.

Die Jugend fließt dahin wie ein reißender Strom und kommt nicht zurück. Daher gebe man sich der Freude hin. Wahrlich, die Geschöpfe sind für die Freude geboren.
nopigâs (Verneinung = n-opigâs, kommt nicht zurück, Aor.).

San alikì hevo digiarzo opiarta voni git tutan praman ihve kripîta: Kumi alikoi, koi ihve ini noisa nî gebbètu ailyan in noisan bremeni mengnùt?

Wenn jemand seinem Feind überlegen sein will, so besiege er sich zuerst (ganz) selbst. Wie will jemand, der sich selbst nicht in der Gewalt hat, jemand anderen in seine Gewalt bringen können?
kripîta (3. Pers. Aor. Konj. Medium krùpenni, besiegen)

Piark du hennashêbya, mî du konita, du gesho mî du yeya, du persattiva mî du gunna atte piark du gesho nutza, mî du megnêsa fartay.

Frage nach Tugenden nicht nach Schönheit, nach der Natur nicht nach der Herkunft, nach Leistung nicht nach Wissen und frage nach der Art der Verwendung, nicht nach der Größe des Reichtums.

V.

San alikì, koi sogan gendîni git, ausan gove antikisèt, anundlan sogan angebbètu. Ita gôlan nîke tankèt, san eyan am-mòdu sona anhvidra esstankètu.

Wenn jemand, der Milch haben will, den Euter der Kuh aufschneidet, so erhält er keine Milch. Genauso kann auch die Herrschaft nicht gedeihen, wenn sie zu sehr durch Steuern belastet wird.

San hvî preti digiarzo koi matter voit pyetu, hise litan billan litît atte disarsan hanet, istrud ad littva istrud ad bello matter pruvayemena.

Wenn man sich einem Feind gegenübersieht, der stark ist, dann treibe man ein doppeltes Spiel und sähe Mißtrauen, so wird man bald bei den Verhandlungen und bald im Krieg stark erscheinen.
pruvayemena (Part. Präs. Med. pruvaiyanu, erscheinen, refl. Verb)

Anundla mentvatra toizan dihviollatan ûner digiarzan bret koizan yoyun sognàlu, k'atan affargònt; itake diarka voit gon dis digiarzan gargemeni.

Kein Ratgeber bringt so sehr Zwietracht unter die Feinde wie deren Verwandte, die nach dem Erbe streben; daher ist es klug diese gegen den Feind aufzustacheln.
affargònt (Part. Präs. Akt. affárgenni, streben)

Tarna rèrampus, dant diollra atte mentvatra hvaya manîsan sate son sayo essdoitevan hant.

Ein abgebrochener Dorn, ein schmerzender Zahn und ein übler Ratgeber sind am besten gleich mit der Wurzel herauszuziehen.

VI.

Hise dâti ad bellan san ita voit, hite hanter bellan nesa gumma, sona bello unan gitan grava voit.

Es ist dann Zeit zum Krieg, wenn es so steht, daß ohne Krieg der Tod sicher, mit Krieg nur das Leben gefährdet ist.

Adi gova allunno dis sarêta ainzan attekkît: San eyan sona lîna pelêna tegryemèno, rimenan atigèganto, sona blagnan soran enshyemèno, san eyan sona sankran atte hâman tegryemèno ad' edeni voit, ammòdu sona sâman on strittan tvishemèno, san eyan ne sanknud samesamèno atte neke ammòdu megran bellatran hvermanèt, san inter kura on evedro on san giller estramèno atte apa tontiva repalêbya anttètrakuse.

Bei diesen Situationen greift man das feindliche Heer an: Wenn es durch ausgedehnte Märsche ermüdet ist, bei der Überschreitung von Flüssen, wenn es durch schreckliche Feuer verängstigt, wenn es durch Hunger und Durst ermüdet beim Essen ist, oder übergemäß von Hitze und Kälte heimgesucht wird, wenn es nicht ordentlich aufgestellt worden ist und auch nicht sehr viele Krieger zählt, wenn es unter Regen und Wind leidet oder wenn es sehr verstreut und vor räuberischen Stämmen auseinandergelaufen ist.
tegreyemèno (Dat. Sg. m. Part. Perf. Med. tegrèyenni, ermüden); atigèganto (Dat. Sg. m. Part. Präs. atîni, überschreiten); ensheyemèno (Dat. Sg. m. Part. Perf. Med. enshèyenni, verängstigen); tvishemèno (Dat. Sg. m. Part. Perf. Med. tvìshenni, heimsuchen); samesamèno (Dat. Sg. m. Part. Perf. Med. samsêni, aufstellen); estramèno (Dat. Sg. m. Part. Perf. Med. stroinenni, verstreuen).

Hve unan digiarzan minan nera voinna nî minkês: hve blagna lonna hvî pelat atte gisan peyemeni mengnèt.

Der kluge Mann unterschätzt auch einen geringen Feind nicht: selbst ein kleiner Brand breitet sich aus und kann einen Wald vernichten.

VII.

Kêndan dâtin hve bale ini sangamatva sandemeni mengnèt san hvî in gêsin konin inkarpèt; hved unan toizan yu kên ûyan narvês.

Eine Zeitlang (eine gewisse Zeit) kann auch ein Dummkopf in Gesellschaft glänzen, wenn ihn ein schönes Kleid umhüllt; aber nur solange er den Mund nicht öffnet.
narvês (Verneinung = n-arvês, öffnet nicht, Aor. Präs.)

Hatu, alikòd heva gena, alikòd hevo geniva atte alikòd hevo haunava saminemeni. Eyu tutu sarse dessa hant. Tutan ge anundlo apa yova indisît.

Man darf etwas seiner Frau, etwas seinen Freunden und etwas seinen Söhnen anvertrauen. Sie sind alle des Vertrauens wert. Alles aber teile man keinem von ihnen mit.
hatu (3. Pers. Aor., hêni, erlauben)

Hvepallat naprîmbeni sona hvîpeni, blagnan nî plenêyeni sona yiarnan, gena nî sahêyeni sona sêran gînay atte hâman d'ugyenin nagganemeni sona pusan mengnèt.

Man kann Schläfrigkeit nicht durch Schlaf überwinden, Feuer nicht mit Feuerholz sättigen, Frauen nicht durch Liebesfertigkeit befriedigen und den Durst nach Wein nicht durch Trinken stillen.
naprîmbeni (Verneinung = n-aprîmbeni, nicht überwinden, Inf. Aor. Akt.)

Gerter sanyegnakèt genin in' ammûda, agran ini venta, karikan san gêsin handànt, nubyan san rîn hevan katònt atte sognàlan ini sorvo dâtiva iolya.

Wahrhaftig erkennt man die Frauen im Unglück, den Held in der Schlacht, Anständigkeit, wenn die Kleider fehlen, die Gattinnen, wenn sie ihren Besitz verlieren und Verwandte in furchtbaren Zeiten der Not..